An einem wolkenlosen Sonntagvormittag blickt Stephan Brendel, ein sportlicher Hüne, in den weit gespannten Himmel über sich: „Bilderbuchwetter, dann wird’s bestimmt voll da oben!“ Wenig später sitzt der 46-Jährige mit Kopfhörern und Fliegerbrille im weißen einmotorigen Leichtflugzeug der Marke Cessna. 750 Kilogramm wiegt es, 210 PS treiben es mit bis zu 300 km/h durchs unendliche Blau.
Brendel kontrolliert konzentriert das Gewimmel von Anzeigen und Instrumenten. Neben ihm sitzt Enrico Anders, blickt ein wenig angespannt aus dem Cockpitfenster. Er hat den Flug zum Geburtstag geschenkt bekommen. „Bisher bin ich immer nur in großen Ferienfliegern geflogen“, sagt er lachend. „Ich hoffe, es schaukelt nicht zu stark“. Brendel lächelt beruhigend zu Werkmeister rück, Bedenken sind dem versierten Flieger nicht neu. Über eine Mitflugzentrale nimmt der Freizeitpilot regelmäßig zahlende Gäste auf seinen privaten Berlin-Rundflügen mit. „Sobald wir in der Luft sind, ist das vergessen. Der spektakuläre Blick auf die Stadt, auf ihre Sehenswürdigkeiten, das nimmt jeden gefangen.“
Heute steht ein einstündiger Rundflug über die Schlösser von Potsdam, den Flughafen Schönefeld, das Tempelhofer Feld und das Olympiastadion auf dem Programm. Berlin aus der Vogelperspektive: ein Traum für viele. Jetzt wird er für Enrico Enders wahr. Den krönenden Abschluss wird ein „Pistentiefenüberflug“ über den Flughafen Tegel bilden, so ist es geplant – mit dem schnurrenden Kleinflieger den dröhnenden Jumbojets zeigen, dass auch die Kleinen was draufhaben. „Dichter ans Gefühl grenzenloser Freiheit kommt man nicht heran“, sagt Brendel. Davon träumte er schon von kleinauf. In direkter Nachbarschaft zum Tegeler Flughafen ist Brendel aufgewachsen: „Wenn man Tag für Tag sieht, wie die Flieger starten und landen, fasziniert man sich ganz automatisch fürs Fliegen“, sagt er.
Im geteilten Berlin war es aber nicht so ohne Weiteres möglich, der Passion nachzugehen: Sportfliegerei war für ihn als West-Berliner verboten. Später gab es andere Hemmnisse, die das Abheben limitierten: „Fliegen ist kein günstiges Hobby.“ Der einstündige Flug heute kostet Brendel um die 200 Euro Chartergebühr. Über die Mitflugzentrale kann er einen Teil der Kosten decken. Genauso wichtig sei es aber auch, die Faszination für den Himmel über Berlin zu teilen: „Das Gefühl kann man nicht beschreiben. Man muss es selbst erlebt haben.“
Der Himmel über Berlin war schon immer ein Sehnsuchtsort. Das hat vor allem auch mit dem einzigartigen Lebensgefühl zu tun, das der Hauptstadt von jeher anhaftet. So schrieb der Berliner Komponist Paul Lincke 1904 zu einem Text von Heinrich Bolten-Baeckers das Operettenlied „Berliner Luft“, in dem es um das schon damals einzigartig freie, ja bisweilen auch etwas ausschweifende Lebensgefühl in der Großstadt ging. Das Lied war binnen kurzer Zeit so erfolgreich, dass es als eigenständiges Stück in den Musiksalons und -bars der Stadt gespielt und schließlich von der Kabarettsängerin Lotte zu Werkmeister auf Schallplatte eingesungen wurde. Erst 1922 wurde der Gassenhauer, dessen Refrain die meisten heute noch mitsingen können, Bestandteil von Linckes Operette „Frau Luna“.
Seitdem ist der Begriff „Berliner Luft“ nicht nur eng mit den „Goldenen Zwanziger“-Jahren verknüpft, sondern längst auch zum Synonym für ein unverwechselbares Lebensgefühl geworden, das heute noch zahlreiche Nichtberliner in die Hauptstadt lockt. „Berliner Luft“, sogar in Dosen erhältlich: die Quintessenz von Freiheit!
Es ist noch früh am Morgen. Ehlert steht mit hochgekrempelten Ärmeln an den mit Vogelkot übersäten Ufertreppen der Greenwichpromenade, blickt suchend über den Tegeler See. Zwei Höckerschwäne schwimmen gemächlich ihrer Wege. Ein paar Möwen kreisen am Himmel. Ein paar Meter weiter gleiten fast lautlos ein paar Blesshühner vom Ufer ins Wasser. Plötzlich greift Ehlert zum Fernglas. „Tatsächlich!“, ruft er begeistert. „Dahinten taucht gerade eine Schellente ab!“. Die Enten mit dem schwarzweißen Gefieder und dem markanten weißen Fleck unter dem Auge sind selten, weil sie sehr klare Gewässer benötigen. Hier, am Tegeler See, der zu den saubersten Gewässern Berlins zählt, kann man sie aus nur 30 Metern Entfernung bewundern. „Ich finde es einfach faszinierend, wie anpassungsfähig die einzelnen Vogelarten sind und was Berlin diesen Vögel zu bieten hat“, schwärmt Ehlert.
Mit dem Insektensterben auf dem Land infolge des massiven Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft sei leider für viele Landvögel die Nahrung verschwunden. Für einzelne Vögel mancher Arten – wie etwa die Feldlerche – biete die Stadt nun gute, ja bessere Überlebenschancen. Längst haben sich die Vögel ihrem neuen Lebensraum angepasst: So singen die städtischen Singvögel zum Beispiel lauter und mehr, um gegen den monotonen und tiefen Stadtlärm anzukommen. Es gibt noch etwas, was Stadtvögel von ihren ländlichen Artgenossen unterscheidet: Sie sind weniger scheu. Das macht Berlin für Vogelbeobachter besonders attraktiv. „Selbst der Alexanderplatz lohnt sich im Sommer“, so Ehlert. „Ein Wanderfalke brütet dort. Frühmorgens kann man ihn gut bei der Futtersuche beobachten.“ Ehlerts Berliner Lieblingsvogel ist aber der Mauersegler, weil der fast sein ganzes Leben in der Luft verbringt: „Er frisst, schläft und paart sich in der Luft“, nur zum Brüten käme er herunter, erzählt der Vogelexperte, ein bisschen neidisch: „Träumt nicht jeder von uns nachts davon, dass er selbst fliegen kann?“
Zumindest Stephan Brendel hat sich den Traum erfüllt. Er wirft den Flugzeugmotor an, Rotoren stottern, werden schneller, bis sich der Propeller richtig dreht. Das Flugzeug rollt zur Startbahn des kleinen Flugplatzes am Rande der Stadt, nicht mehr als eine Graspiste. Der Hobbypilot gibt Gas und hebt bald ab. Er blickt aus dem Fenster, in den endlosen blauen Himmel, und schweigt zufrieden – Berlin liegt ihm zu Füßen.